Augenzeugen
Die von Helmut Meitz und Hermann Schifer aus Wöllersdorf festgehaltenen Augenzeugenberichte liefern einen Eindruck von der verheerenden Brandkatastrophe:
Warum die Gittertore verschlossen waren, erklärte die Augenzeugin Eugenie Lichtenwörther aus Wöllersdorf so: „Ich war als neunzehnjähriges Mädchen in einer Halle neben dem Objekt 143 beschäftigt. In dieser Halle wurde an Artilleriemunition gearbeitet. Die Frauen wogen das Schießpulver in Leinensäcke und nähten diese zu. Dann wurden die Säckchen mit Zündhütchen in die Geschosse gesteckt. Der Sommer war auf dem Steinfeld, wo die Munitionsfabrik stand, immer heiß und trocken. Durch das Glas der Dachfenster in Objekt 143 heizte sich die Luft in der Halle unerträglich auf. Die Fenster waren nicht zu öffnen. Um Frischluft und etwas Abkühlung zu bekommen, musste man daher die Tore öffnen. Um rechtzeitig bei der Ausgabe des Mittagessens zu sein, verließen Arbeiterinnen bereits etwas vor 12 Uhr mittags die Halle durch eines der seitlichen Tore. Daher schloss das militärische Aufsichtspersonal immer deutlich vor der Mittagspause diese Tore und ließ nur ein einziges Eingangstor offen, wo sie das Kommen und Gehen gut kontrollieren konnten. Um der unerträglichen Hitze zu begegnen, kamen die für die Kontrolle des Objektes 143 verantwortlichen Militärs auf die Idee, die Ausgänge mit Gittertoren zu versperren. Beim Ausbruch des Brandes um etwa 11:30 Uhr war daher für die Beschäftigten jeder Fluchtweg versperrt. An den Gittertoren häuften sich die Leichen. Als man die Tore mit Mühe aufbrachte, stürzten Überlebende vor Schmerzen brüllend ins Freie. Die meisten brachen hier sofort zusammen.“
Die k.u.k. Munitionsfabrik Wöllersdorf war der größte Industriebetrieb der Österreich-Ungarischen Monarchie und zählte 1916 über 45.000 Beschäftigte, davon der Großteil Frauen. Am Gelände gab es fast 1000 Bauten (Objekte).
Der Dechant von Wöllersdorf, Karl Minichthaler schrieb in die Pfarrchronik: „Ich bin am 18. September 1918 um 1 Uhr nachmittags zur Aushilfe des Feldkuraten in das Fabrikspital gefahren und habe den wenigen, welche bei Besinnung waren, die Beichte abgenommen und den Bewusstlosen die Absolution gespendet. Es war ein jammervoller Anblick. Ganz nackt brachte man die Armen in den Krankensaal – denn die furchtbare Stichflamme der pulverigen Nitrozellulose hatte sämtliche Bekleidung im Nu verzehrt. Am ganzen Körper verbrannt lagen die Verwundeten und Sterbenden röchelnd auf ihren Schmerzenslagern, bis die Ärzte und Pflegerinnen alle der Reihe nach verbanden. Viele verstarben ihnen unter den Händen. Besonders grauenvoll war der Anblick der Bergung der Toten. Beim Eingang zur Totenkammer fuhr ein Automobil nach dem anderen vor, welche die Todesopfer von der Unglücksstelle brachten. In jedem Wagen waren ungefähr zehn Leichname übereinander gelagert, wie geschlachtete Kälber auf einem Fleischerwagen. Der Wagen wurde geöffnet: Mit raschem Griff erfassten zwei starke Arme eine Tote nach der anderen, zogen sie auf die bereitstehende Bahre und schon trugen zwei Soldaten die Leiche in den Saal und legten sie auf die Erde in die fast unabsehbare Reihe der dort liegenden Opfer. Rasch arbeiteten die Leute, denn Wagen folgte auf Wagen. Sie hatten Eile, um die Toten alle noch vor Einbruch der Nacht zur bergen. Wie versteinert grinsten uns die entstellten, indianerbraun gefärbten Gesichter der Toten entgegen. Steif ragten ihre Glieder in die Luft. Splitternackt, denn alles an ihnen war versengt, bis auf die Schuhe, welche die meisten noch anhatten. So lagen die meist jungen toten Frauen auf dem Boden.“
Die Arbeiter-Zeitung schrieb am 22.9.1918: „Die Katastrophe hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Ringtheaterbrand. Im Theater waren die Türen geschlossen, in Wöllersdorf wurden sie zu spät geöffnet und durch die Stichflammen und Leichen verlegt und unbenutzbar gemacht.“ Der Brand im Wiener Ringtheater am 8. Dezember 1881 war mit offiziell 384 Toten eine der größten Brandkatastrophen der Monarchie.
Durch die Wirrnisse in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts und die Nachwirkungen der beiden Weltkriege wurde die Wöllersdorfer Brandkatastrophe nie genau untersucht, ist bei vielen Bewohnern des Steinfeldes in Vergessenheit geraten und wurde, wie andere unangenehme Erinnerungen, verdrängt. Das unvorstellbare Ausmaß dieses Fabrikbrandes, das dadurch in den betroffenen Familien ausgelöste Leid und nicht zuletzt die Opfer selbst, fordern ein Gedenken.